Samstag, 17. November 2012

Fährt es oder steht es?

Überforderte Kinder im Straßenverkehr

Maria Limbourg
Universität Essen



Will man eine Fahrbahn sicher überqueren, muß man in der Lage sein, die Entfernung und die Geschwindigkeit der herannahenden Fahrzeuge zuverlässig zu schätzen. Nur so kann man erkennen, ob eine gefahrlose Überquerung der Fahrbahn an einer ungeregelten Stelle noch möglich ist oder ob es besser ist, das Auto erst einmal vorbeifahren zu lassen.
Für die Einschätzung der Entfernung ist die Tiefenschärfen-Wahrnehmung von großer Bedeutung. Diese Fähigkeit ist erst im neunten Lebensjahr vollständig ausgebildet. Jüngere Kinder können noch kaum Entfernungen schätzen, d.h. sie können nicht richtig beurteilen, ob ein herankommendes Fahrzeug noch sehr weit entfernt oder schon sehr nahe ist. Die Forschungsarbeiten zu diesem Thema zeigen, daß erst im Alter von 8 Jahren ca. 90% der Kinder die Entfernungen einigermaßen gut schätzen können (vgl. LIMBOURG, 1995, Kap. 5 und 1997, Kap. 3).
Die Fähigkeit, Geschwindigkeiten richtig zu beurteilen, entwickelt sich später als das Entfernungsschätzen. Die Schätzung von Geschwindigkeiten ist auch noch für ältere Kinder sehr schwierig. Erst mit ca. 10 Jahren können Kinder Geschwindigkeiten einigermaßen richtig einschätzen.


Erst ab ca. 8 Jahren sind die Kinder fähig, sich auch über eine längere Zeit (z. B. für die Gesamtdauer des Schulwegs) auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Da sich die Konzentrationsfähigkeit der Kinder in der heutigen Zeit zunehmend verschlechtert (zu viel Fernsehen, zu viele Computer-Spiele, Reizüberflutung), lassen sich inzwischen auch noch ältere Kinder (8- bis 12jährige) zu leicht ablenken - und das verringert ihre Verkehrssicherheit.

Ob Fußgänger, Radfahrer oder Autofahrer, jede Art der Verkehrsteilnahme stellt hohe Anforderungen an unsere körperliche, geistige und soziale Leistungsfähigkeit. Da Kinder - je nach Alter - diese Fähigkeiten noch nicht oder nur teilweise besitzen, sind sie - ganz besonders als Fußgänger und als Radfahrer - wesentlich stärker gefährdet als Erwachsene (STATISTISCHES BUNDESAMT, 1997, LIMBOURG, 1995, 1997, ELLINGHAUS und STEINBRECHER, 1996). So ereigneten sich im Jahr 1996 in Deutschland insgesamt 14.612 kindliche Fußgängerunfälle, die meisten davon im Alter von 6 bis 9 Jahren. Weitere 16.278 Kinder wurden als Radfahrer in einen Unfall verwickelt, mit einem deutlichen Schwerpunkt im Alter von 10 bis 14 Jahren (STATISTISCHES BUNDESAMT, 1997). Etwa die Hälfte dieser kindlichen Fußgänger- und Radfahrerunfälle wurde durch den beteiligten Autofahrer verursacht, die andere Hälfte wurde durch das Kind selbst ausgelöst. Bei diesen Unfällen spielen die bei den Kindern noch nicht ausreichend vorhandenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten eine wichtige Rolle. So sind die häufigsten unfallauslösenden Verhaltensweisen von Kindern als Fußgänger das „plötzliche Überqueren der Fahrbahn, ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten (ca. 50%)'' und „das plötzliche Hervortreten hinter Sichthindernissen (ca. 30%) ''. Bei beiden Unfallarten spielt die noch nicht ausreichend entwickelte Aufmerksamkeit des Kindes eine zentrale Rolle. Die Kinder lassen sich leicht ablenken und konzentrieren sich dann nicht mehr auf das Verkehrsgeschehen - mit verhängnisvollen Folgen für ihre Sicherheit.

Im Alter von 6 - 7 Jahren sind die Kinder zu einem angemessenen Überquerungsverhalten in der Lage, allerdings nur dann, wenn sie sich auf den Verkehr konzentrieren und nicht abgelenkt sind. Erst im Alter von 8 bis 9 Jahren lassen sich Kinder nicht mehr so leicht ablenken. Ihr Verhalten ist aber auch auf dieser Stufe nur bei ca. 50 % der Kinder „stabil'', d. h. bei jeder Überquerung ähnlich „verkehrssicher'' (vgl. LIMBOURG, 1995, Kap. 3.1). Die anderen 50 % der 8- bis 9jährigen Kinder zeigen keine Konstanz in ihrem Verkehrsverhalten und sind dadurch unberechenbar.

Da sich diese Entwicklung bei verschiedenen Kindern nicht immer im gleichen Tempo vollzieht, sind die Altersangaben für das Erreichen bestimmter Stufen nur als grobe Richtwerte anzusehen - mit großen interindividuellen Schwankungen. Und sie hängt auch stark von der „Erfahrungen'' ab, die Kinder im Verkehr machen können. Kindern, die ständig mit dem Auto transportiert werden oder die nicht auf der Straße spielen können, fehlen diese Erfahrungsmöglichkeiten und das verzögert die Entwicklung ihrer verkehrsbezogenen Fähigkeiten. Solche Entwicklungsverzögerungen lassen sich ganz besonders häufig in Ballungsgebieten mit viel Verkehr und wenig Freiraum für Kinder beobachten (HÜTTENMOSER, 1994). In solchen Gebieten wird der Lebensraum der Kinder durch den Straßenverkehr stark eingeschränkt. Aus Angst vor Unfällen werden die Kinder von ihren Eltern immer häufiger mit dem Auto zum Kindergarten, zur Schule und zum Sportplatz gefahren, und sie haben deshalb kaum mehr die Gelegenheit, „verkehrssichere'' Verhaltensweisen zu erlernen und einzuüben (LIMBOURG, 1996).



Viele psychologische Fähigkeiten, die für die Bewältigung der Gefahren im Straßenverkehr erforderlich sind, entwickeln sich erst nach der derzeitigen zivilrechtlichen Altersgrenze von 7 Jahren.

So haben Kinder erst mit ca. 9 bis 10 Jahren ein Verständnis für vorbeugende Maßnahmen im Verkehr. Aufmerksamkeit, Konzentration und Reaktionsfähigkeit sind erst mit ca. 14 Jahren vollständig funktionsfähig. Bis zum Alter von ca. 12 Jahren lassen sich Kinder noch leicht ablenken und vergessen dann den Straßenverkehr und seine Gefahren.

Durch Verkehrserziehung können Kinder lernen, sich im Verkehr „sicherer'' zu verhalten, sie bleiben aber leicht ablenkbar und unkonzentriert, denn altersbedingte Defizite lassen sich durch Erziehung nur teilweise kompensieren.
Eine Anhebung der Altersgrenze für die zivilrechtliche Haftung kann zwar die Kinder nicht direkt vor Unfällen schützen, sie kann aber für sie die negativen Unfallfolgen - zumindest aus finanzieller Sicht - reduzieren. In einer Gesellschaft, in der es inzwischen viermal mehr Autos als Kinder gibt, benötigen Kinder einen besonderen Schutz durch die Gemeinschaft ...




Literatur:

HÜTTENMOSER, M.: Auswirkungen des Straßenverkehrs auf die Entwicklung der Kinder und den Alltag junger Familien. In: FLADE, A. (Hg.): Mobilitätsverhalten. Wienheim: Psychologie Verlags Union, 1994.

KÖHLER, R.: Reaktionsfähigkeit der 10- bis 14jährigen Kinder im Vergleich zu den Erwachsenen. Zeitschrift für Verkehrserziehung, 1988, 4, 91-95.

KUNZ, T.: Weniger Unfälle durch Bewegung. Hoffmann, Schorndorf, 1993.

LIMBOURG, M.: Die Leistungsfähigkeiten von Kindern als Fußgänger im Straßenverkehr